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Was ist typisch „Alevitisch“? / Kann man im nach hinein „Alevite“ werden? Serdan BER

 Um diesen Fragen nachgehen zu können, halte ich es für empfehlenswert zunächst einmal das typisch „Alevitische“ zu beschreiben. Was haben die meisten von uns während ihrer Sozialisation erfahren und was verbindet uns mit dem Alevitentum überhaupt? Ich denke, dass erst auf dieser Grundlage ein gesunder Übergang zu der Frage, ob man im nachhinein Alevite werden kann und was die typischen Eigenschaften des Alevitentums sind vollzogen werden kann. Dass das Alevitentum nicht als eine geschlossene Einheit wahrgenommen werden kann, sondern vielmehr eine differenzierte Betrachtungsweise erfordert, da sich das Alevitentum aus sozialen, kulturellen, religiösen, philosophischen, politischen und historischen Merkmalen zusammensetzt, die sich teilweise überschneiden oder einander ausschließen können, ist die gelebte Praxis. Spätestens das Beispiel Onur Öymen hat uns gezeigt, dass das Alevitentum und sein Wertekodex unterschiedlich ausgelebt werden. Die unterschiedlichen politischen Strömungen innerhalb der alevitischen Community unterstützen diese These. Das es nicht nur das bestimmte Alevitentum gibt, beinhaltet infolgedessen eine Interpretation des Alevitentums unterschiedliche Kombinationen und Varianten, die regional unterschiedliche Formen annehmen können. Um trotzdem jedoch zu einer Aussage zu gelangen halte ich den Ansatz mit der Analyse des Einfluss des Alevitentums auf die Identität von uns Aleviten insbesondere während der Sozialisationsphase für objektiv und aussagefähig. Dabei gilt es im Besonderen die Identitätsfrage von uns Aleviten zu untersuchen, die durch eine Vielzahl von Zugehörigkeiten definiert sind, welche zugegebenermaßen nicht nur äußerst komplex sind, sondern teilweise auch gegensätzliche Merkmale aufweisen. Am offensichtlichsten wird diese „Verwirrung" bei der Definition bzw. der Frage ob Aleviten Moslems sind oder nicht.

Aus den mehrdimensionalen Definitionen des Alevitentums, die aus verschiedenen Quellen stammen, kann auch nicht eindeutig geklärt werden, ob das Alevitentum eine eigene Kultur, eine Philosophie, eine politische Gesinnung - vielleicht sogar eine revolutionäre Idee -, eine eigenständige Religionsform oder eine Richtung des Islam verkörpert. Jede(r) hat hier seine/ihre eigene Definition. Die Eigendefinition resultiert sich teilweise auch aus dem Alevitentum selbst. Denn die Alevitische Lehre gibt gemäß dem Spruch "Jeder ist für seinen Glauben selbst verantwortlich" den einzelnen Individuen Gewissens- und Glaubensfreiheit. Jeder Alevit ist danach frei, seinen Glauben selbst zu bestimmen, ohne die Verantwortung gegenüber Mitmenschen und insbesondere den Bedürftigen zu vergessen. Was aber dennoch aus diesem Kontext heraus gesagt werden sollte, ist, dass das Selbstbildnis des Alevitentums eine fortlaufende dynamische Konstruktion und Rekonstruktion in der Historie als auch in der Gegenwart erfahren hat. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus legitim die Frage aufzustellen, wie die alevitische Zugehörigkeit überhaupt definiert wird. Denn gerade aufgrund der mannigfaltigen komplexen Struktur des Alevitentums ist es wichtig sich im ersten Schritt mit der mosaikförmigen Struktur des Alevitentums auseinanderzusetzen, um zu verstehen, und danach beleuchten zu können, was das typisch „Alevitische“ im Alltag überhaupt ausmacht. Erst nach Charakterisierung des typisch „Alevitischen“ mit seinen besonderen Attributen kann meiner Meinung nach der Versuch unternommen werden, sich der Fragestellung annehmen ob man bspw. im nach hinein Alevite werden kann. Da es bei der Wahrnehmung und Auslebung nicht nur um die Varianten und Strukturen der Differenzierung geht, sondern auch darum wie die alevitischen Glaubslehren/Riten von der alevitischen Community im Alltag überhaupt wahrgenommen bzw. ausgelebt werden, ist es wichtig ausgehend von den Punkten, inwieweit das Alevitische in unserer Sozialisation, der in Deutschland lebenden Migranten seine Spuren hinterlassen hat. Hierzu bediene ich mich neben persönlich gemachten Beobachtungen im privaten Umfeld und Gesprächen mit Freunden verschiedenen  Literaturquellen. Schliesslich werde ich dazu übergehen die Merkmale, die die meisten Aleviten als Zugehörigkeit des Alevitentums empfinden und immer genannt werden zusammenzutragen um danach eine Antwort auf diese Fragen zu finden.

In diesem Zusammenhang ist es von hoher Relevanz zunächst die Wirkungen, den Stellenwert und die Bedeutung des Alevitentums auf unsere Kindheit und auf die Jugendzeit zurückzuverfolgen. Das heisst, die Erlebnisse und die Erfahrungen der sozialen Ordnung im Kontext des Alevitentums, die viele von uns gemacht haben herauszustellen. Danach soll symbolisch eine Transformation der Ergebnisse auf die Fragestellung erfolgen. Das impliziert zugleich auch die Frage, wie wir unsere alevitische Sozialisation im Nachhinein wahrnehmen und bewerten. Vor diesem Hintergrund gilt es Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, die das „Alevitische“ in unserem Alltag ausgemacht haben und die gleichzeitig auch zu hinterfragen gilt. Wie wir unsere alevitische Lebensart von unseren Eltern überliefert bekommen haben, macht hier einen zentralen Punkt aus. Es darf hier nicht vergessen werden, welche schwierige Umstände unsere Eltern bzw. Vorgenerationen bei der Anreise in Deutschland vorgefunden haben. Die Ergebnisse aus verschiedensten Literaturquellen untermauern ganz klar, dass die alevitische Zugehörigkeit in Bezug auf das Sozialisationsspektrum die gleichen Phänomene bzw. Beobachtungen reflektieren. Diese möchte ich hier benennen.

Viele von uns beschreiben das Alevitentum permanent mit Attributen wie z. B. er/sie sei „neutral" und „frei" erzogen worden ohne jeglichen politischen oder religiösen Einfluss. Das Alevitentum wird dann folglich immer wieder über die liberale Sozialisation, die die meisten erfahren haben assoziiert. Darüber hinaus stellen wir sehr gerne Vergleiche zwischen unserer eigenen Zugehörigkeit und der der Anderen, der Nicht-Aleviten an, die aus Überzeugung meistens mit einer Aufwertung unserer eigenen Zugehörigkeit einhergeht. Infolgedessen wird von uns bewusst bzw. unbewusst immer wieder eine gewisse positive Eigenart oder Besonderheit in Abgrenzung zu den Anderen hergestellt. Dass das alevitische über keine Dogmen und starre Regeln verfügt, wird von den meisten unseren Menschen als positiv empfunden. Dies wird sogar in einigen Fällen als Grund dafür angesehen, warum Aleviten, je nach Situation und Umwelt sich besser und schneller anpassen können. Gleichsam stellen die meisten von uns die Gleichgültigkeit unserer Eltern gegenüber dem Alevitentum in Übereinstimmung fest, was als Grund angegeben wird, warum man nicht über das Alevitentum Bescheid weiss. Die Gründe für die genannte Bedeutungs- und Bezugslosigkeit geht aus verschiedenen Wahrnehmungen hervor. Im großen und ganzen wird aber die Assimilations- und Diskriminierungspolitik des Alevitentums als Hauptursache dafür gesehen, warum unsere Eltern daran gehindert gesehen werden, jegliche Veranschaulichung diverser alevitischer Inhalte zu überliefern. Wir alle wissen, dass diese Wissenslücke an dieser Stelle eine Anknüpfung sowie eine Überlieferung von religiösen Grundlagen und anderen Inhalten sehr schwierig gemacht haben.

Gerade deswegen wird anstatt das Alevitentum selbst zu benennen sehr schnell dazu übergegangen das Alevitentum mit den Vergleichen in der Außenwelt festzumachen. Somit wird das Alevitentum von Vielen von uns aus der Ein- und der Abgrenzung zu der sunnitischen und alevitischen Zugehörigkeit definiert.

 

Infolgedessen kann gesagt werden, dass die meisten von uns, die das Alevitentum nicht in ihrer Kindheits- und Jugendphase kennenlernen konnten, über keinerlei Eigen- und Fremddefinition der Ein- und der Abgrenzung unserer Zugehörigkeit verfüg(t)en. Daran zeigt sich auch, dass es die Art der familiären Umwelt ist, in der wir aufgewachsen sind und an die wir uns mehr oder weniger stark gebunden fühlen, die es uns ermöglicht bzw. eher verhindert, unsere alevitische Zugehörigkeit anzunehmen oder uns gar nach ihr zu orientieren. Leider ist das Alevitentum aber in dieser wichtigen Lebensphase des Erwachsenwerdens bei den meisten von uns weder inhaltlich noch begrifflich thematisiert worden. Das Alevitentum blieb somit in unserer Erziehung sekundär und ist ihr bis in die Gegenwart ein für alle Mal verschlossen geblieben, da ein persönlicher, alltäglicher Bezug nicht hergestellt werden konnte. Diese Vermittlungs- und Beziehungslosigkeit kennt zwei Seiten. Zum einen muss sie nicht unbedingt als Verlust aufgefasst werden, da diese Freiheiten zur freien Selbstfindung und -entfaltung beigetragen haben. Andererseits bringt sie Nachteile mit sich, die im folgenden genannt werden.


Viele von uns haben ja in unserer Kindheit kaum erfahren, dass wir überhaupt Aleviten sind. Obwohl wir das Alevitentum nicht begrifflich benennen, geschweige denn inhaltlich definieren konnten, existierte dennoch ein latentes Gefühl unserer „Andersartigkeit“ gegenüber der Außenwelt, das wiederum im Zusammenhang zum familiären Radius stand. Viele von uns können denke ich bestätigen, dass über unsere alevitische Zugehörigkeit während unserer Kindheit bzw. Jugendzeit kein richtiges Bewusstsein existierte. So waren die alevitischen Inhalte bei vielen Jugendlichen während unserer Sozialisationsphase zwar immer unsichtbar, aber dennoch irgendwie präsent. Dieses latente Verhalten brachte aber auch zugleich die Eigenschaft mit sich, dass viele von uns bzw. Andersdenkende zu der Überzeugung gelangten, dass sie das Alevitentum als unreligiös deklarier(t)en. Das wird wiederum in der Sozialisation mit dem im Alltag nicht praktizierten Ritualen assoziiert, die sehr schnell im Urteil münden, dass das Alevitentum keine religiösen Glaubenslehren kennt. Dass es keine alevitischen Richtlinien bzw. Rituale in unserer Erziehung gab, legitimiert wiederum Einige zu sagen, dass diese Religiosität im alltäglichen familiären Leben nicht vorkomme und auch nicht ausgelebt werde. Aus diesem genannten Kontext heraus hat das Alevitentum das Problem im Alltag überhaupt in Erscheinung zu treten und wir werden von Andersdenkenden als „Ungläubige“ empfunden bzw. abgestempelt. Da viele von uns nicht in die alevitische Riten hineinerzogen worden sind, führte dies sogar dazu, dass das Nichtpraktizieren von religiösen Grundlehren von manchen als eine reine Eigenschaft des Alevitentums aufgeführt wurde, was tatsächlich aber auf die Assimilation und auf die alevitischen Wertevorstellungen wie Liebe, Respekt und Toleranz zurückzuführen ist, die jeden von uns den Spielraum geboten haben, nicht dogmenorientiert der Selbstfindungs- und Identitätsfrage nachzugehen. Natürlich sind die Gründe für diese Entwicklung auch in den verspäteten alevitischen Lobbyaktivitäten zu suchen, die erst mit dem Pogromm in Sivas (im Jahr 1993) den Bedarf nach Organisationen und Aktivitäten gespürt haben. Leider geht das was in vielen Jahren verloren gegangen ist auch damit einher, dass das Unspezifische im Alevitentum als das spezifische Faktum des Alevitentums interpretiert wird. Das heisst, auch wenn keine alevitischen religiösen Faktoren in unserer Sozialisation vorkamen, werden diese dennoch als alevitische Normen und Werte wahrgenommen und definiert. Da die Religiosität mit Rigidität von Dogmen assoziiert wird, welche mit Unfreiheit und mit Zwanghaftigkeit einhergeht, und man im Alevitentum nicht auf diese starren Dogmen stösst, wird das Alevitentum auf diese Weise auch von manchen Aleviten sehr schnell mit Unreligiösität gleichgesetzt. Aus diesem Grund wird von Vielen das Alevitentum - offenbar in Abgrenzung zu anderen Religionsformen wie die der Sunniten - als unreligiös empfunden. Viele können es bestimmt bestätigen: Sobald Aleviten von Deutschen nach den differenzierenden Merkmalen ihrer Glaubensrichtung zum Islam gefragt werden, antworten die meisten von uns (Ältere eingeschlossen) mit folgenden Worten: „Wir sind nicht so religiös“. Das dem so ist, das hat aber wie wir wissen seine Gründe. Wenn wir in unsere Kindheitsjahre zurückgehen, so werden die meisten feststellen, dass das Alevitentum in dieser Lebensphase ohne genauere Ausformulierung und ohne einen persönlichen und spezifischen Bezug in unserem Erinnerungsvermögen geruht hat.


Sicherlich waren die Termini „Alevitentum" und ähnliche Ausdrücke, wie z. B. „Alevit" und „alevitisch", einigen von uns sicherlich auch schon während ihrer Kindheit bzw. Jugendzeit in Ausnahmefällen bekannt gewesen, inwieweit diese aber eine Bedeutung erlangten, war natürlich eine andere Sache. Wir können somit festhalten, dass das Alevitentum bei den meisten von uns lediglich „theoretisch" überliefert wurde. Es war zwar in den Erzählungen der Eltern permanent präsent gewesen, blieb aber in ihrem Gedächtnis ohne jeglichen praktischen Bezug im Hinblick auf die Durchführung von Ritualen. Die meisten von uns haben auf jeden Fall die Religiosität nicht gelebt und erlebt, sondern ausschließlich als verbale Aussage übermittelt bekommen, die in unsere Erziehung tradiert wurde und die wir dann als Zugehörigkeit übernommen haben. Doch diese Eigendefinition blieb ohne jegliche Inhalte und Bedeutungen im Gedächtnis haften. Mit anderen Worten: Die alevitische religiöse Dimension wie z. B. die religiösen Tage, die Feste und die Zeremonien waren den meisten in ihrer Kindheit sowie im alltäglichen Leben des Erwachsenwerdens nicht immer bewusst, somit auch meistens nicht vertraut und präsent, da die Eltern die religiösen Bestandteile des Alevitentums auch nicht vorlebten, weil sie selbst meistens das hierfür nötige Wissen nicht hatten. Man könnte hier sehr schnell zu der Schlussfolgerunge gelangen, zu sagen, dass das Alevitentum einen untergeordneten Stellenwert innerhalb der Erziehung besaß, wenn man die Gegebenheiten und Rahmenbedingungen nicht kennen würde, in denen die alevitischen Werte- und Normensysteme zu überliefern waren. Es ist hier von der systematischen Diskriminierungs- und Assimilationspolitik des Staates die Rede, die unsere Eltern daran gehindert hat selbstbewusst ihre Lebenskultur an die Kinder zu übermitteln.

Wenn aber ein alevitisches Bewusstsein in der Kindheit und in der Jugendzeit vorhanden war, so in Form von einer rein begrifflichen Zuordnung, „ein Alevit zu sein". Es kann somit gesagt werden, dass eine der Ursachen für das Schwinden der alevitischen Religiosität in der beschriebenen „wertelosen" Erziehung zu suchen und zu finden ist. Sonach ist diese Art der Erziehung durch eine fehlende religiöse Vermittlung der Eltern an ihre Kinder mitbedingt, die wiederum von einem Wissensverlust der Eltern verursacht wurde, die, was die Grundlagen der alevitischen Religiosität betrifft, selbst nur über einen sehr geringen Wissensstand verfügen. Auch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass im Kontext des Alevitentums festgestellt werden kann, dass das Alevitentum nicht religiös (im Sinne von Dogmen) verankert ist. Daher konnten auch keine diversen religiösen Faktoren innerhalb der Sozialisation vermittelt werden. Sonach blieb die Erziehung eine religionslose Zone. Die Rechtfertigung bzw. die Begründung, warum die meisten unreligiös erzogen wurden, lag in dieser Unreligiosität. Auf jeden Fall liegt für die meisten von uns die Ursache dafür, dass das Alevitentum in der Sozialisation sekundär geblieben ist in diesem Aspekt verborgen. Ergo erfordert das Bekenntnis zum Alevitentum somit keine eindeutige und notgedrungene automatische Religiosität. Vielmehr geht sie offensichtlich mit dem Begriff und der Eigendefinition in Bezug auf das Bewusstsein der Zugehörigkeit einher. Das wir heute uns trotzdem alevitisch bezeichnen, das impliziert wiederum, dass das Alevitentum von den meisten nicht ausschließlich über die religiöse Dimension definiert wird? Es besitzt vielmehr andere Bestandteile, denen in Bezug auf die Frage in den nachfolgenden Abschnitten nachzugehen ist.

Nun warum bezeichnen wir uns trotzdem als Aleviten? Womöglich kann die alevitische Zugehörigkeit auch ohne die alevitischen Glaubensvorstellungen und –lehren existieren? Denn wenn keine alevitischen Inhalte in der Sozialisation vermittelt wurden und keine Aufklärung über unsere alevitische Zugehörigkeit erfolgte - was überhaupt macht dann das Spezifische im Alevitentum aus? Und welche Bedeutung hat die hieraus folgende Identifikation mit dem Alevitentum über das Bewusstsein, sprich über die Zugehörigkeit? Das heisst doch, dass der Begriff Alevitentum mit einer Zugehörigkeit assoziiert wird, die auch ohne jegliche religiöse Grundlage bestehen kann. Zumindest sind wir doch der beste Beweis dafür, dass das Alevitentum in Bezug auf unsere Zugehörigkeit mit und durch eine begriffliche Benennung überleben konnte. Demzufolge benötigt das Alevitentum keine religiöse Dimension als Bestandteil eines Bewusstseins der Zugehörigkeit zum Alevitentum?

Vorab möchte ich unterstreichen, dass es auf die gestellte Frage keine eindeutige und eindimensionale Antwort geben kann. Zur Beantwortung dieser Frage habe ich diverse Literaturquellen zugrundegelegt, aus denen ich die nachfolgenden Abschnitte zusammengeschnürt habe, die aber sicherlich nicht in vollem Umfang diese Frage beantworten werden. Zunächst begebe ich mich auf die Suche nach dem Bindeglied zwischen uns und dem Alevitentum. Was ist charakteristisch dafür, dass die meisten von uns trotz der Unreligiösität in der Sozialisationsphase (siehe oben) dennoch als „Alevitisch“ definieren?

Die Frage wer Alevit ist und in welcher Form man die alevitische Erziehung in seiner Familie in seiner/ihrer Sozialisation wahrgenommen hat, verbinden die meisten Aleviten mit einigen zentralen Merkmalen, die die meisten von uns natürlich je nach Region mit einer bestimmten Varianz unterschiedlich erfahren haben.

1.) Das erste Merkmal ist die Eigendefinition, die oben schon erwähnt wurde, welche über die imaginäre Abstammung sowie über die Familiengeschichte erfolgt. Sonach begründet sich die alevitische Zugehörigkeit durch die Eigendefinition einer alevitischen Zugehörigkeit auf der Grundlage des Glaubens an eine imaginäre Abstammungsgemeinschaft die biologischer Natur ist.

2.) Das zweite Merkmal, das sowohl in vielen Literaturquellen zu lesen ist als auch von vielen Aleviten gebracht wird, ist die Eigenschaft, dass das Alevitentum im Kontext der eigenen Familie steht. Somit wird die Eigentümlichkeit der Familie und deren Sozialisation von den meisten mit dem Terminus alevitische Kultur bzw. Alevitentum gleichgesetzt.
3.) Das dritte Merkmal betrifft die alevitische Zugehörigkeit, die mit den Eigenschaften der eigenen Persönlichkeit assoziiert wird und aus einem Wir-Gefühl hervorgeht, das die meisten von uns Aleviten verinnerlicht haben. Einige von uns verbinden das Alevitentum mit den Attributen ihrer eigenen Persönlichkeit. Alevitentum ?„Das bin halt ich." So banal das klingt, fokussiert sich das Alevitentum genau auf diesen Menschen, der im Fokus unserer Weisheiten steht.


Diese drei genannten Merkmale fließen in die Betrachtungsweisen von vielen von uns hinein, gehen ineinander über und stehen somit in Beziehung zueinander und bilden Fundament der Argumentation zur alevitischen Zugehörigkeit. Diese Verbindungen gehen auch unmittelbar mit einer Stabilisierung eines Bewusstseins und eines Bekenntnisses zum Alevitentum einher, die die Alevitische Zugehörigkeit beschreiben. Der Grund warum jemand trotzdem zum Alevitentum konvertieren kann ist möglicherweise auch in den genannten Merkmalen zu suchen.

Zu 1)

Viele von uns bezeichnen sich als alevitisch, da wir in diese Zugehörigkeit hineingeboren wurden, was wiederum von uns als eine natürliche, selbstverständliche Zugehörigkeit interpretiert wird, auch wenn das Alevitentum in dieser Erscheinungsform, als unreligiös wahrgenommen wird. Dies geht konform zu der Mainstream-Wahrnehmung. Demzufolge verortet sich diese „Eigenschaft" als ursprünglich existierende und unabwendbare Bindung der Aleviten zueinander. Die Blutsverwandtschaft und die Tatsache, durch die Geburt eine Alevit(in) zu werden, macht ein Merkmal aus sich der alevitischen Zugehörigkeit angehörend zu fühlen. Aus diesem Zusammenhang wird die Blutsverwandtschaft als biologische Abstammung für die Legitimation der Zugehörigkeit und hergehalten. Unter Abstammung ist eine Bindung zu verstehen, die aus dem Gefühl der Gegebenheiten der sozialen Existenz herrührt, das bedeutet, einer besonderen Religion anzugehören, aus einer besonderen Familie zu stammen und aus einer besonderen Vergangenheit hervorgegangen zu sein. Diese Grundgegebenheiten werden als natürlich, selbstverständlich angesehen, und zwar aus der Perspektive von Tradition, Herkunft, Glaube und Historie. Die Vorstellung von einer alevitischen Zugehörigkeit ist auch untrennbar verbunden mit der Eingrenzung derjenigen, die zur Abstammung, Familiengeschichte und Familie gehören. Durch die Anwendung des Abstammungskriteriums wird die Ein- und die Abgrenzung gegenüber den Sunniten erleichtert. Mithin trägt diese Grenzziehung in den verschiedenen Lebensphasen zur Stärkung der alevitischen Zugehörigkeit bei. Dass viele trotz ihrer Abstammung die alevitischen Glaubenslehren nicht praktizieren scheint dennoch kein Widerspruch zu sein. Denn trotz des Nichtpraktizierens von alevitischen Riten bleibt festzuhalten, dass viele von uns ein alevitisches Bewusstsein und ein damit verbundenes Loyalitätsgefühl besitzen, das durch die Abstammung erzeugt wurde, und bei uns im Bewusstsein einen hohen Stellenwert einnimmt. Um die alevitische Tradition nach diesem Merkmal mit Blutverwandtschaft fortzuführen und die alevitische Tradition zu „pflegen“, wird hier von unseren Eltern die Forderung gestellt einen Aleviten oder Alevitin zu heiraten. Wenn man hier genau hinsieht stellt man fest, dass die Werte wie Liebe, Toleranz und Respekt gegenüber Menschen zumindest nach diesem als charakteristisch empfundenem Merkmal an Glaubwürdigkeit einbüßen. In diesem Fall ist wohl nicht abzuerkennen, dass durch die Geburt bzw. durch die Abstammung sowie in der subjektiven Wahrnehmung der Entwicklung der Primärsozialisation Faktoren wie z. B. der Religion eine große Bedeutung zukommt und dass der signifikante soziohistorische Kontext einen starken Einfluss auf die Identifikation des Zugehörigkeitsbewusstseins ausübt. Die Verpflichtung zur Praktizierung des Glaubens wird nicht als ausschlaggebend gesehen. Die Legitimation erfolgt ausschliesslich über die Abstammung.


Zu 2)

Ferner gehen viele davon aus, dass das, was sie in der Familie erlebt und mit der Familie gelebt haben schon die alevitischen Inhalte darstellen. Die Familie wird als Konstrukt entworfen und beschreibt somit die typisch „alevitische Welt“. Diese alevitische Welt wird dann meistens mit den wenigen „Überlieferungen“ assoziiert, die man von den Eltern erfahren hat. Sonach wird die Innenseite des Alevitentums geformt durch Sozialisationsprozesse, die meisten als gemeinsame Erfahrung haben, innerhalb der alevitisch definierten Gemeinschaft bzw. als die alltägliche Reproduktion des „Wir" empfunden. Die meisten bezeichnen ihre Familienbräuche als spezifisches Charakteristikum des Alevitentums, wie z. B. die Anpassungsfähigkeit, die Fähigkeit, sich weiterzuentwickeln, was wiederum von uns als ein positives Fundament des Alevitentums ausgelegt und als ein spezifisch alevitisches Merkmal dargelegt und beschrieben wird. Die Besonderheit der Familien setzen die meisten so mit dem Terminus Alevitentum bzw. alevitische Kultur fast gleich. Das bedeutet, die Lebensform, die Art und Weise, wie sie in der Familie leben, macht die spezifische alevitische Kultur für sie aus. Alevitentum bedeutet hier die alevitisch bestimmten Verhaltensweisen, Einstellungen, individuelle und gemeinschaftliche Erfahrungen, die innerhalb der Familie er- und gelebt werden, und diese sind im Privaten, das heisst im Radius der Familie, vollzogen worden. Auch wenn die Religiosität in der Familie nicht ausgelebt wird, wird dennoch der alevitische Einfluss auf das Leben als gravierend eingestuft, da er mit den Handlungen wie z.B. „Eline Beline Diline Sahip Ol“ bei einigen Familien zum Vorschein kommt. Die diversen Bestandteile des Alevitentums, wie z. B. die Erzählungen von Ali und anderen Symbolfiguren bleiben jedoch meisten verschlossen und somit auch ohne jeglichen persönlichen Bezug und ohne jegliche Sinnesempfindung im kulturellen Gedächtnis haften. Die Bestandteile des Alevitentums, die außerhalb der Familie existieren, werden sogar meistens als unwichtig deklariert. Das ist genau der Punkt, der auf den subjektiven Charakter des Alevitentums zurückgeht, der ja bekanntlich nach Region bzw. zu Familie unterschiedliche Formen annimmt.


Zu 3.)

Des Weiteren definieren Einige das Alevitentum über sich selbst.: „Ich bin ich. Ich bin ein Alevit." Die Anerkennung folgt hier als eine natürliche, selbstverständliche Ausdrucksweise des Daseins und Wesens der Persönlichkeit. Alevitentum heißt somit auch, der subjektive Sinn ihrer Zugehörigkeit, die Identifikation mit der alevitischen Zugehörigkeit. Das Alevitentum wird dann mit Attributen der eigenen Persönlichkeit gleichgesetzt. Das legitimiert ihn/sie sofern er/sie sein/ihr Leben nach den alevitischen Glaubensrichtlinien gestaltet sich als Alevit zu bezeichnen. Die Gegebenheit, dass man in diese Lebensgemeinschaft hinengeboren wurde spielt dann hier keine Rolle, da die alevitische Zugehörigkeit, sich aus der emotionalen und religiösen Bindung zu alevitischen Wurzeln herrührt
Das bis lang skizzierte Verständnis über das Alevitentum zeigt somit einen subjektiven Glauben an eine imaginierte Abstammungsgemeinschaft und das Bedürfnis, sich von anderen Gemeinschaften abzugrenzen. Es ist richtig, dass das alevitische Bewusstsein von den meisten von uns definitiv nicht durch religiöse Praktiken erworben wurde. Vielmehr ist bei den meisten von uns die imaginäre Abstammung und die Familiengeschichte primär für das Bekenntnis zur alevitischen Zugehörigkeit verantwortlich und ausschlaggebend gewesen. Wie oben dargelegt geht es weniger um die Praktizierung religiöser Riten, „um ein Alevit zu sein", als um ein subjektives Gefühl von Zugehörigkeit, das in erster Linie durch die Geburt, das heisst durch die Abstammung, legitimiert wird. Infolgedessen kann gesagt werden, dass das Alevitentum nicht mehr mit seinen alten Traditionen erlebt und gelebt wird, aber in den gemeinschaftlich gültigen Vorstellungen, als vom Abstammungsmerkmal her dennoch erhalten bleibt. In diesem Kontext lässt sich nun auch die Antwort auf die Frage präzisieren: Die alevitische Zugehörigkeit sowie das Alevitentum gelten zwar primär als ererbt und zugeschrieben. Jedoch kann in der Praxis, nach dem dritten Identifizierungsmerkmal durchaus jemand sich als Alevitisch ansehen bzw. betrachten, wenn er sich mit den alevitischen Glaubensvorstellungen identifizieren kann. Das Alevitentum konzentriert sich nämlich genau auf diesen Menschen, der das menschliche Wesen in den Mittelpunkt stellt und dazu noch alevitische Überzeugung hat.


Resümierend bleibt festzuhalten, dass die alevitische Zugehörigkeit prinzipiell als Resultat eines Identifikationsprozesses zu begreifen ist, in welchem unter Bezug auf die Vorstellung von einer imaginierten Abstammungsgemeinschaft Abgrenzungen der Eigen- und der Fremddefinition zwischen „Wir" und „den anderen" vorgenommen werden. Die Grundgegebenheiten wie z. B. Blut, Brauch, Herkunft, Glaubensgeschichte, persönliche Überzeugung begründen maßgeblich diese Zugehörigkeit. Das Alevitentum verkörpert somit mehrdimensionale Zugehörigkeiten, die ineinander übergehen, aber sich nicht gegenseitig bedingen.

Serdan Ber, November 2009 Köln

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